Der Tatbestandsirrtum, gelegentlich auch Tatumstandsirrtum genannt, beschreibt im deutschen Strafrecht den Irrtum eines Täters über einen Umstand, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört. Für den Beschuldigten kann § 16 des Strafgesetzbuches (StGB) durchaus wichtig werden, denn oftmals führt ein solcher Irrtum juristisch zu einer milderen Strafe. Insbesondere Vorsätzlichkeit ist nach § 16 Abs. 1 StGB ausgeschlossen.
FAQ: Tatbestandsirrtum
Was ist ein Tatbestandsirrtum?
Liegt ein Tatbestandsirrtum vor, so kann ein Täter nicht mehr für vorsätzliches, sondern nur noch für fahrlässiges Handeln zur Verantwortung gezogen werden. Die Gesetzgebung geht dann davon aus, dass derjenige einen Umstand eines Tatbestandes nicht kannte.
Wie wirkt sich ein Tatbestandsirrtum aus?
Der Beschuldigte kann bei einem Tatbestandsirrtum nicht für Vorsatz verurteilt werden, der meist eine härtere Strafe nach sich zieht. Für Fahrlässigkeit ist eine Verurteilung aber dennoch möglich.
Wann liegt beispielsweise ein Tatbestandsirrtum vor?
Hier finden Sie einige Beispiele, die den Tatbestandsirrtum veranschaulichen sollen.
Wann liegt ein Tatbestandsirrtum vor? – Gesetzeslage und Beispiele
Inhalt
Der Tatbestandsirrtum nach § 16 StGB ist eine von verschiedenen, im Strafrecht vorkommenden Irrtumsformen. Wie der Name bereits vermuten lässt, ist er auf der Ebene des Tatbestands angesiedelt und beeinflusst die Strafbarkeit der Handlung.
Denn wer zum Tatzeitpunkt einen Umstand, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, nicht kennt, kann nicht vorsätzlich handeln. Vorsatz beinhaltet somit immer, die Tatbestandsmerkmale zu kennen.
Im Gesetzestext heißt es:
(1) Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich. Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung bleibt unberührt.
(2) Wer bei Begehung der Tat irrig Umstände annimmt, welche den Tatbestand eines milderen Gesetzes verwirklichen würden, kann wegen vorsätzlicher Begehung nur nach dem milderen Gesetz bestraft werden.
Ein Tatbestandsirrtum im Sinne von § 16 StGB liegt in der Regel dann vor, wenn der Täter zum Tatzeitpunkt einen Umstand nicht kennt, der Bestandteil des juristischen Tatbestands ist. Die Ahndung der Tat kann dann nicht mehr aufgrund von Vorsatz geschehen, sondern lediglich auf Basis von Fahrlässigkeit.
Beispiele für den klassischen Tatbestandsirrtum
Beispiele für Irrtümer, die im Strafrecht juristische Relevanz erlangen können, gibt es viele. Exemplarisch seien hier nur einige genannt, um das Konzept von § 16 StGB zu verdeutlichen. In den folgenden Fällen handelt es sich um einen Tatbestandsirrtum:
- Ein Spaziergänger wird im Wald angeschossen und schwer verletzt, weil der Jäger ihn im Dämmerlicht irrtümlich für einen Hirsch hielt.
- Ein Bergsteiger nimmt beim Verlassen der Hütte eine fremde Jacke mit, die seiner eigenen gleicht, in der irrigen Annahme, es handele sich tatsächlich um seine eigene Jacke.
- Ein Apotheker gibt irrtümlich die falsche Arznei heraus, weil die Ampullen sich ähneln und er der Meinung war, das richtige Fläschchen zu verkaufen.
In diesen Fällen ist laut § 16 StGB in der Regel eine Verurteilung wegen Vorsatz ausgeschlossen. Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung ist aber weiterhin möglich, sofern diese gesetzlich gegeben ist.
Andere Formen des Tatbestandsirrtums
Daneben spielt § 16 StGB auch in einigen Unterfällen und Sonderformen des Tatbestandsirrtums eine Rolle.
Aberratio ictus
Als „aberratio ictus“ wird juristisch ein Irrtum bezeichnet, bei dem zwar der beabsichtigte Erfolg eintritt, jedoch bei einem anderen Objekt, als es Ziel der Tat war. Schießt der Jäger aus dem obigen Beispiel absichtlich auf Spaziergänger A, trifft jedoch nur dessen Hund, weil A zur Seite tritt oder Wind die Flugbahn der Kugel verfälscht, liegt normalerweise ein aberratio ictus vor.
Für eine solche Konstellation kommen in der Regel zwei Rechtsfolgen in Betracht:
- Für das anvisierte Rechtsgut liegt ggf. eine versuchte Vorsatztat vor.
- Für das tatsächlich verletzte Rechtsgut liegt ggf. fahrlässige Strafbarkeit vor.
Denn Vorsatz ist nach § 16 StGB ausgeschlossen. Allerdings sind die Rechtsfolgen in solchen Fällen nicht unumstritten, wenn es sich um gleichwertige Rechtsgüter handelt (bspw. Spaziergänger A sowie einen weiteren Spaziergänger B). Juristisch vertritt die Literatur teils auch die Meinung, bei gleichwertigen Rechtsgütern sei es unerheblich, dass Irrtum vorliegt. Demnach könnte es sich dennoch um ein Vorsatzdelikt handeln.
Error in persona vel in obiecto
Ebenfalls in Zusammenhang mit § 16 StGB steht der error in persona. Dieser liegt vor, wenn der gewollte Erfolg am anvisierten Tatobjekt zwar eintritt, dieses aber ein anderes ist, als der Täter beabsichtigt hatte. Es handelt sich also um einen Identitätsirrtum.
Im Unterschied zur aberratio ictus geht der error in persona nicht aufgrund äußerer Umstände vonstatten, sondern liegt im Irrtum des Täters begründet. Erschießt der Jäger also den Spaziergänger in der Annahme, dieser sei A, obwohl es sich tatsächlich um B handelt, liegt normalerweise ein error in persona vor.
Anders verhält es sich, wenn es sich nicht um Rechtsgüter gleicher Qualität handelt. Beabsichtigt der Jäger, den Hund zu erschießen, trifft jedoch stattdessen Spaziergänger A, kann § 16 StGB insofern Anwendung finden, als dass der Täter einerseits wegen fahrlässiger Tötung angeklagt wird und sich andererseits bspw. wegen eines versuchten Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz verantworten muss.
Irrtum über den Kausalverlauf
Ebenfalls entfällt der Vorsatz nach § 16 StGB, wenn es sich um einen Irrtum über den Kausalverlauf handelt. Wesentlich ist hier ein Geschehensverlauf, der nicht vorhersehbar war. Ob dies zutrifft, ist immer im Einzelfall zu prüfen.
Vorstellbar ist zum Beispiel, dass Person A mit Tötungsabsicht Person B von einer Brücke stoßen will. Statt im reißenden Fluss zu ertrinken, stirbt B allerdings bereits durch den Aufprall auf eine Querverstrebung der Brücke. Hier würde A vermutlich trotz § 16 StGB wegen einer vorsätzlichen Straftat belangt, da hier ein atypischer Kausalverlauf unwesentlich ist.
Anders sieht es aus, wenn A zwar Person B von der Brücke stößt, dieser jedoch aus dem Fluss gerettet werden kann, der gerufene Krankenwagen dann allerdings auf dem Weg ins Krankenhaus in einen Unfall verwickelt wird, weshalb B dennoch verstirbt. Es handelt sich normalerweise um eine wesentliche Abweichung vom angenommenen Kausalverlauf. In dem Fall würde A wahrscheinlich nur wegen versuchter Tötung bestraft werden.